Der Startschuss der organisierten Massenermordung im Nazifaschismus

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Startschuss der Massenermordung

Wir sprechen viel über den Nationalsozialismus. Egal ob in der Schule, Uni, mit Freund:innen oder in der Familie. Diese grausame Zeit Deutschlands geht an niemandem vorbei. Zu Recht: Sie war von Hass, Ängsten und Krieg geprägt. Vor allem der Hass auf bestimmte Gruppen in unserer Gesellschaft sowie ihre Verfolgung und Enteignung führte zu vielen gewalttätigen Verbrechen. Insgesamt wurden 6 Millionen Jüdinnen und Juden verfolgt und ermordet oder durch Zwangsarbeit in den Tod gearbeitet. Andere verfolgte Gruppierungen wie Sint:izze und Rom:nja, Linke oder Homosexuelle gehen in dem Diskurs über die NS-Zeit jedoch oft unter. In diesem Beitrag möchte ich explizit auf die Tötung von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen.

Behinderte Menschen werden in unserer Gesellschaft oft immer noch als „Belastung“ und „minderwertig“ gesehen. Das hat viele verschiedene Gründe, die ich nicht nur auf den Nationalsozialismus schieben möchte. Aber ganz abstreiten kann man dessen Einfluss darauf nicht. Die damalige Ideologie beinhaltete ein klares Bild, wie Menschen zu sein hatten: Gesunde, weiße, junge Menschen, die „für das deutsche Volk“ arbeiten konnten. Völkische Ideologien haben immer ein überlegenes „wir“, das dann Ausschluss oder Ausbeutungsmechanismen braucht, um das „wir“ zu stärken.

Dazu gehörten Menschen mit Behinderung in der NS-Zeit nicht. Sie wurden als „lebensunwert“ gesehen. Also als eine pure Belastung der Gesellschaft, die sich als „überlegene Rasse“ inszeniert hat, um daraus einen Herrschaftsanspruch und Machtfantasien abzuleiten. Behinderte Menschen hatten keinen Platz in dieser Gesellschaft. Daran hat sich leider bis heute nicht viel geändert. Kapitalistische Gesellschaften, die nach Logik von Profit und Produktivität funktionieren, lassen nicht viel Raum für Menschen, die innerhalb dieses Systems nicht funktionieren oder beutet diese extrem aus. Obdachlose, Bürgergeldempfänger:innen oder behinderte Menschen leiden alle strukturell darunter, dass sie vermeintlich „nichts beitragen“ und deswegen schlechte Behandlung oder ökonomische, physische oder psychische Gewalt „verdienen“.

Sie mussten also weg

Menschen mit Behinderung sollten also in der NS-Zeit weg. Um zunächst die Fortpflanzung von Menschen mit Erbkrankheiten und anderen unerwünschten „Auffälligkeiten“ einzudämmen, wurden diese zwangssterilisiert. Dazu wurde am 14.07.1933 das Gesetz „Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorgestellt, welches am 01.01.1934 in Kraft trat. Zu der Gruppe der Erbkranken gehörten unter anderem psychisch kranke Menschen, Epileptiker:innen, Menschen mit körperlichen Behinderungen und andere, als „minderwertig“ gesehene Menschen wie Alkoholabhängige und als „asozial“ geltende Personen. Das Gesetz wurde bis 1944 an rund 400.000 Menschen angewandt. Bei der Zwangssterilisation starben durch die Operation etwa 5000 Frauen und Männer. Eine offizielle Anerkennung der gesamten Gruppe von Menschen, die zwangssterilisiert wurden, steht bis heute seitens der Politik aus.

Beginn der „Aktion T4 “

Doch auch die bereits lebenden „unwerten“ Menschen sollten ausgelöscht werden. Eine der ersten Aktionen, in der die Nationalsozialisten die Ermordungen an Menschen im großen Stil durchführten, ist unter dem Namen „Aktion T4“ bekannt. Die Opfer der Aktion waren besagte „unwerte“ Menschen. Sie wurde noch vor der Massenermordung von Jüdinnen und Juden sowie anderen Gruppen durchgeführt.

Die ersten Menschen, die unter dieser Aktion getötet werden sollten, waren behinderte Kinder. Dazu rief Adolf Hitler im Frühjahr 1939 eine Planungsgruppe ins Leben, die eine geheime Tötung behinderter Kinder organisieren sollte. Teil dieser Planungsgruppe waren Philipp Bouhler, der Leiter von Hitlers Privatkanzlei, und Karl Brand, sein Leibarzt. Sie organisierten Ärzte und Verwaltungspersonal, die die Tötung durchführten. Das Hauptquartier der Planungsgruppe befand sich in der Tiergartenstraße 4. Daher kam auch der Name „ Aktion T4“. In der dortigen Villa arbeiteten mehr als sechzig Menschen an der Planung und Durchführung der Aktion.

Geschichte der Eugenik

Eugenik beschreibt die Idee, eine Verbesserung des biologischen Erbgutes des Menschen zu schaffen, indem die Fortpflanzung von Menschen mit vermeintlich schlechten Erbanlagen verhindert wird. Schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kam es in den USA, Kanada, Skandinavien und der Schweiz zu Zwangssterilisationen von Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung. Nach dem Ersten Weltkrieg stieß eugenisches Gedankengut auch in Deutschland zunehmend auf Akzeptanz. Nicht nur unter Ärzten und Wissenschaftlern, sondern auch in Politik und Bevölkerung wurde die Idee immer populärer. Die Nationalsozialisten knüpften an die Idee der Eugenik an und machten die „Rassenhygiene“ zur Wissenschaft ihrer Gesundheitspolitik.

Ermordung lebensunwerter Kinder

Ab Oktober 1939 forderten Gesundheitsbehörden Eltern von behinderten Kindern auf, ihre Kinder in dafür vorgesehene Klinken zu bringen, um sie dort zu untersuchen. In Wirklichkeit waren diese Kliniken Tötungsanstalten, wo die Kinder durch überdosierte Medikamente oder durch Nahrungsentzug ermordet wurden. Laut Schätzungen wurden dort in der gesamten Zeit 10.000 behinderte Kinder umgebracht. Die Ermordung der Kinder diente auch dazu, die Effektivität der verschiedenen Tötungsvarianten zu testen.

Erweiterung auf Erwachsene mit Behinderung

Wenige Wochen später wurde das Tötungsprogramm auch auf erwachsene Menschen mit Behinderung erweitert. Um das dafür zuständige Personal vor Strafverfolgungen zu schützen, unterzeichnete Hitler eine Generalvollmacht. Um den Anschein einer Kriegsmaßnahme zu erwecken, wurde diese Vollmacht auf den Tag des Kriegsbeginns rückdatiert. Zunächst wurden akribisch formulierte Fragebögen an medizinische Einrichtungen verteilt, die bestimmte Daten wie Arbeitsfähigkeit oder Heilungsaussichten der Patient:innen abfragten. Sie sollten den Anschein erwecken, dass es sich nur um eine Umfrage zur Datenerfassung handelt, um bessere Versorgung zu gewährleisten.

Die aus den Anstalten eingegangenen Meldebögen wurden von den T4-Gutachter:innen bearbeitet. Jeder Meldebogen wurde kopiert und von 3 Gutachter:innen unabhängig voneinander geprüft. Ihre Entscheidung, ob die Person ermordet wird oder weiter leben darf, trugen sie in ein Feld ein. Ein rotes Plus bedeutete Tötung und ein blaues Minus Weiterleben. War das Urteil nicht einstimmig, traf die medizinische Leitung die Entscheidung. Es wurden mehr als 200.000 Patient:innen erfasst. Sie wurden in Kategorien aufgeteilt: in „lebensunwertig“oder „lebenswertig“, also noch für die Gesellschaft als Arbeitskraft, Kanonenfutter oder Gebärmaschine für das deutsche Volk zu gebrauchen. Die als „lebensunwertig“ gesehenen Menschen wurden anschließend mit Bussen und Zügen zu den Tötungsanstalten transportiert, wo sie innerhalb weniger Stunden umgebracht wurden. Die Angehörigen bekamen eine Urne, gefüllt mit willkürlich gewählter Asche und eine Urkunde mit einem ausgedachten Todesgrund nach Hause geschickt.

Tötungsanstalten

Zwischen Januar 1940 und August 1941 wurden insgesamt 70.273 Menschen mit Behinderung ermordet. Hierfür wurden sechs Vergasungsstätten eingerichtet. Diese befanden sich in Brandenburg an der Havel (westlich von Berlin), Grafeneck (Südwesten Deutschlands), Bernburg (Sachsen), Sonnenstein (Sachsen), Hartheim bei Linz(Österreich) und Hadamar (Hessen).

Proteste sorgten für Ende

Auch wenn die ganze „Aktion T4″ unter Geheimhaltung durchgeführt werden sollte, dauerte es nicht lange, bis die Öffentlichkeit davon erfuhr. In der Umgebung der Tötungsorte waren die Gerüche von verbrannten Leichen und die immer wieder ankommenden Busse nicht zu übersehen. Auch die auffälligen Todesmeldungen und das Zurücksenden der Kleidung an die Angehörigen erweckte Aufregung in der Bevölkerung. Einzelne Beschwerden von Angehörigen wurden meist ignoriert. Nur manchmal gelang es den Angehörigen, die Verwandten zu retten.

Nach einiger Zeit versuchte die Justiz die Morde zu behindern, beispielsweise Lothar Kreyssig (1898–1986). Er war Vormundschaftsrichter am Amtsgericht Brandenburg. Als gesetzlichem Vertreter vieler Patient:innen, fielen ihm die vielen Verlegungen und Todesfälle ab 1940 auf. Er protestierte beim Reichsjustizminister, stellte Strafanzeige gegen Phillip Beuler und verbot Deportationen von Patienten, jedoch ohne Erfolg. Stattdessen wurde Kreyssig 1942 zwangsweise in den Ruhestand versetzt.

Auch die Kirche schaltete sich ein und machte öffentlichen Protest. Eine öffentliche Ansprache des Bischofs Clemens August von Galen führte zu starker Unruhe in der Gesellschaft, welche am 24.08.1941 zum offiziellen Stopp der zentral organisierten Vergasungen in den Tötungsanstalten führte. Von einem Ende der Morde kann jedoch nicht die Rede sein. Diese wurden in anderer Weise fortgeführt. Schätzungen zu folge wurden nach offizieller Beendigung weitere 30.000 Menschen mit Behinderung ermordet. Die Opfer wurden jedoch ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in Lagern in Deutschland deportiert, sondern nach Ostmittel- und Osteuropa in Vernichtungslager wie Majdanek, Treblinka, Sobibór und Bełżec sowie Auschwitz-Birkenau verschleppt. Der vermeintliche Hintergrund war der Platzmangel in den Krankenhäusern, der angeblich für die verletzten Soldaten gebraucht wurde. Die Lager wurden zum Beispiel nach Ostmittel- und Osteuropa umgesiedelt, wohin später dann auch Jüdinnen und Juden deportiert wurden.

Persönliches Schlusswort

Für diese Beiträge habe ich mich das erste Mal so richtig intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie solange für eine Recherche gebraucht. Das liegt zum einen daran, dass dieses Thema, wie vieles, was mit Behinderung zu tun hat, kaum Öffentlichkeit hat. Zum anderen war die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von behinderten Menschen durch meine eigene Betroffenheit für mich teilweise ziemlich emotional. Das Bewusstsein, dass ich in vielerlei Hinsicht damals definitiv eines der Opfer gewesen wäre, macht einiges mit mir.

Bei der Recherche habe ich mich viel mit unserer Redaktion abgestimmt, inwieweit ich mich persönlich in die Umsetzung der Inhalte zu dem Thema einbringen möchte oder sollte, um mich vor Anfeindungen und Gewalt zu schützen. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, zu diesem Thema auch Videos auf unserem Instagram- und TikTok-Kanal zu machen, mich vor der Kamera jedoch so weit wie möglich rauszuhalten. Das hat den Grund, dass ich auf Social Media teilweise hart angegriffen werde, nur weil ich eine Behinderung habe. Wenn ich dann noch über Themen wie diese spreche, rechne ich leider schon im Vorfeld mit starker Hetze gegen mich persönlich. Das kann mich auf Dauer sehr mitnehmen. Außerdem ist meine Sorge, dass dadurch der Fokus auf mir als Person liegt und nicht auf diesem wichtigen Thema, dass Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit braucht. Daher halte ich mich diesmal eher im Hintergrund. Alleine, dass ich mir über solche Sachen Gedanken machen muss, zeigt wieder, dass behinderte Menschen auch in der heutigen Gesellschaft noch mit den Kontinuitäten von Gewalt und Ausgrenzung kämpfen.

Euer Linus

Quellen:

https://www.t4-denkmal.de/ (Abgerufen am 04.12.2023)

https://gedenkort-t4.eu/wissen/aktion-t4 (Abgerufen am 04.12.2023)

https://gedenkort-t4.eu/index.php/wissen/was-heisst-eugenik#:~:text=Das%20Wort%20Eugenik%20kommt%20von,biologischen%20Erbgutes%20des%20Menschen%20verstanden. (Aufgerufen am 08.12.2023)

https://www.planet-wissen.de/geschichte/nationalsozialismus/nationalsozialistische_rassenlehre/geschichte-der-eugenik-verbrechen-100.html (Aufgerufen am 08.12.2023)

23 Jahre alt, Inklusionsaktivist

Moin, ich bin Linus. Schon seit einigen Jahren bin ich in unterschiedlichen Projekten aktiv und vertrete dort meine politische Meinung zu verschiedensten Themen. Der Schwerpunkt liegt hierbei aber oft bei Themen rund um das große Thema „Behinderung“, was ich durch meine eigene Ausgangslage mitbringe. Von Geburt an lebe ich nämlich selber mit einer körperlichen Einschränkung.

Linus

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